Wörter des Jahres

Sächsisches Wort des Jahres 2010

Beliebtestes Wort

Hornzsche

Rumpelkammer oder altes, verwahrlostes Haus

Schönstes Wort

bäbbeln

Fußballspielen bzw. Kicken als Freizeitvertreib

Bedrohtes Wort

dschidschoriengrien

kräftige, »giftige« Grüntöne


Dschieddschoriengriene Hornzsche zum Bäbbeln –
Eine Kolumne von Dr. Peter Ufer

Unten im Hof schien ein großes Spektakel stattzufinden. Kinder riefen laut und irgend etwas flog immer wieder gegen die Hauswand. Meine Nachbarin riss das Fenster auf und rief: »Ruhe – ihr habd wo ä Volldreffer, hier im Hof wird nie gebäbbeld.«

Da wusste ich, es dreht sich alles um Fußball. Aber ich wunderte mich schon, dass meine Nachbarin wie eine Schiedsrichterin auftrat und das Spiel abrupt stoppte. Denn sonst rennt sie doch zu jedem Heimspiel und sobald Welt- oder Europameisterschaften stattfinden, hisst sie eine Fahne wie früher zum 1. Mai, setzt sich einen schwarz-rot-goldenen Hut auf und zieht johlend durch die Straßen. Ich fragte sie einmal, wo sie denn ihn diesem Aufzug hinziehen würde. Sie meinte, ich solle doch mal mitkommen, denn es wäre eine Freude, beim »Rudlguckn« dabei zu sein.

»Wobei bitte«, fragte ich. Sie: »Beim Gruppenglodzn, Massengaffen, beim Meudekino, Wühlfernsehen, Dummlblicken, Sibbenschbähn, Hordenschdarrn, Volksäugn.« Ich übersetzte mir ihre Worte mit dem gemeinsamen Fußball gucken, egal ob auf einer riesigen Leinwand oder im Stadion – public viewing ist das alle verbindende Ereignis, eine erweiterte Fernsehcouch für die Gefühlsgemeinschaft.

Karikatur von Uwe Krumbiegel

Doch bevor Fußball ganz groß wird, fängt er klein an. Da wird gebäbbeld. Das kommt vom Wäscheplatz oder aus dem Hof und ist der Ursprung allen Profifußballs. Dieses Wort ist so sächsisch wie ä babbscher Ball, vermutlich kommt es auch daher. Denn wer mit Freunden eine ruhige Kugel schiebt, der vertreibt sich lässig die Zeit, hat Spaß und jeder gewinnt. Für Amateure ist bäbbeln ein entspannter Zeitvertreib, keiner nimmt Anstoß, sondern der Nachwuchs kann unbeschwert gefördert werden. Gebäbbeld wird mit allem, was zu finden ist: Steinen, Flaschen, Büchsen, Bällen.

Plötzlich gab es einen lauten Knall. Der Ball der Hofkinder flog durch ein Fenster in der unteren Etage. Ich rannte runter, da öffnete die Mieterin schon die Wohnung, auch meine Nachbarin war zur Stelle, die rannte durch den Flur in das getroffene Zimmer und rief: »Oooor – wie das hier aussiehd in der Hornzsche.« Ich vernahm die Fülle des Wohllauts: Hornzsche! Der Klang klingt beim Sprechen, aber beim Schreiben wird es schwierig, denn die erste Regel der sächsischen Schreibschrift heißt bekanntlich es gibt keine Regel. Das macht den Sachsen so frei und erfinderisch. Alles ist erlaubt. Geschrieben wird das gesprochene Wort.

Hornzsche kann man auf mindestens vier verschiedene Arten schreiben. Gesprochen aber wird es vor allem im Leipziger Raum. Dort gab es viele ziemlich miese Behausungen, baufällig Häuser, alte, verwahrlosten Zimmer. Die Hornzsche stammt ursprünglich aus dem Slawischen, im Sorbischen heißt sie Hornca und meint das Zimmer oder die Stube.

Mitten in dem Zimmer, in dem wir jetzt standen lag der Fußball. Die Scheibe des Fensters war noch ganz, denn es war zum Glück offen und der Ball konnte ungehindert hineinfliegen. Was ich jedoch an den Wänden sah, verschlug mir die Sprache. Meiner Nachbarin allerdigns nicht. Sie sagte: »Hier had aber eener düschdsch gemalerd. Das schdichd ins Ooche, so dschiddschoriengrien wie das is.«

Dschiddschoriengrien ist ein sächsisches Wort, um das wir sich die Sachsen besonders kümmern, denn es hat einen Migrationshinter-grund. Es ist ein Wort, das nicht getürkt ist, ein Wort, welches mitten in die neue politische Schwarz-Weiß-Malerei sächsische Farbe bringt.

Dschiddschoriengrien ist ein Leuchtendes gelbgrün. Dieses Grün findet sich in den Tiefen der sibirischen Steppentundra. In einem Aquarell mag es als Kontrapunkt Akzente setzen. Dort ist die Farbe meist fließend, im Alter dann trocken und rissig. Als Fläche an der Zimmerwans zerstört es aber Augenlicht und zieht nichts an außer Fliegen. Dschiddschoriengrien hat nur einen Vorteil, es klingt unaussprechlich gut sächsisch. Die Schreibweise ist abenteuerlich. Die Herkunft des Wortes gibt zudem Sprachwissenschaftlern seit Jahren ein Rätsel auf. Verschiedene Erklärungsversuche kursieren durch Sachsen.

  1. Erklärung: Dschiddschoriengrien klingt wie aus der Natur entlehnt. Man glaubt, einen zwitschernden, grünen Vogel zu hören, der es bunt treibt. Titschori, titschori. Flattert nicht irgendwo ein Zitscherin durch die Lüfte?
  2. Erklärung: Wenn einer zu viel gezwitschert hat, der Alkoholkonsum also deutlich über dem erträglichen Maß lag, dann sieht er total gägsch aus und nimmt eine grünliche Farbe an, die auf die Entleeren des Mageninhalts hindeutet. Er trägt dann Dschiddschoriengrien im Gesicht und seine Umgebung unter ihm auch.
  3. Erklärung: Dschiddschorien stammt von einem russischen Namen ab. Lenins Außenminister Georgi Tschitscherin könnte der Namenspatron sein. Denn er trug so hässliche quitschgrüne Schlipse, dass von ihm am Ende nur tschitscheriengrien übrig blieb. Vielleicht hat die Farbe ja auch mit den grünen Uniformen der Armeen zu tun, die die friedliebenden Sachsen schon immer hassten. Vielleicht aber kommt es auch aus dem Italienischen.

Den Kindern im Hof war das völlig egal. Ich warf ihnen ihren Ball zu, sie bäbbeldn weiter – sie spielten übrigens Italien gegen Russland.